Das erste, was er spürt, ist brennender Durst.
Er versucht mühsam, zu schlucken, doch da ist nichts, das er schlucken könnte.
Er hört nur Stille.
Dann erst öffnet er die Augen. Es ist dunkel.
Er bekommt keine Luft, hört, wie er aufkeucht. Einen quälenden Moment lang will Panik ihn lähmen, doch er hält sie zurück. Die Dunkelheit ist nicht völlig undurchdringlich. Die Wand ist hoch, wie eine Kellerfabrik. Oben ist ein kleines Fenster, durch das ein fahles Licht seinen Weg ins Innere findet. Die Luft riecht faulig.
Schweiß rinnt ihm in unangenehm kitzelnden Bächen den Körper entlang. Irgend etwas ist passiert, doch er kann sich nicht erinnern. Wie zähe Spinnenfäden ziehen sich die Gedanken durch seinen Kopf. Er kann keinen davon festhalten.
Der Durst! Er ächzt. Es hört sich an wie das letzte Schnorcheln eines Lungenkranken.
Langsam beginnt ein Gedanke aus dem Spinnennetz deutlicher zu werden, drängender. Er schiebt sich vor und fängt rot zu pulsieren an: da sitzt einer.
Ihm gegenüber ist eine Gestalt zu erkennen.
Jede Faser seines Körpers warnt ihn, doch der Durst ist unerbittlich. Er fühlt kaum etwas anderes.
"Wasser..." bringt er mühsam hervor. "Bitte... Durst." Mehr schafft er nicht.
Die Gestalt dreht den Kopf und sieht ihn an. Er merkt, dass er keine Kraft mehr für Angst hat und sinkt schwer zurück. Merkwürdig, wenn etwas eintritt, vor dem man sich seit Jahren fürchtet, denkt er und versucht zu ergründen, wohin die Gestalt blickt. Es ist ein Mann. Trotz des fahlen Lichts, kann er erkennen, dass er schwarz ist. Nicht dunkelhäutig. Einfach schwarz. Und er antwortet nicht.
Er lässt den Kopf auf die Unterlage zurücksinken und riecht zum ersten Mal ihre Ausdünstung nach Feuchtigkeit und altem Schweiß.
Er versucht, an etwas anderes zu denken. Den Durst aus seinen Gedanken zu verbannen. Bemüht sich, seinen Körper zu bewegen. An seinen Beinen zerrt irgend etwas, er muss gefesselt sein. Sein Atem geht heftiger. Nicht hyperventilieren! denkt er und zwingt sich zu einem gleichmäßigen, langsamen Takt.
Er braucht keine Angst zu haben. Jemand wird kommen und ihn rausholen. Er bezahlt ein Dutzend Leute dafür. Sie suchen ihn. Sie holen ihn raus. Voller Wehmut denkt er an das große Gebäude in der Lyoner Straße. Sein Zimmer, von dem aus er direkt über den Main sehen kann. Das Wasser. Wasser!
Ob er noch in Frankfurt ist? Er versucht verzweifelt, sich an irgend etwas zu erinnern, während der Durst wie eine heiße Welle über ihn hinwegfegt.
"Es ist heiß", sagt der Andere plötzlich.
Der Mann hat einen deutlichen Akzent, doch er kann die Worte verstehen. Sie tröpfeln auf lähmende Weise in ihn ein, er kann sich nicht dagegen wehren. Trotz seines trockenen Halses muss er schlucken. Sprich mit ihm, denkt er. Irgendwo hat er gelesen, dass es wichtig ist. Wenn ein Entführer eine persönliche Beziehung zu seiner Geisel entwickelt, fällt es ihm schwerer, ihr etwas ... anzutun. Er schluckt abermals, schmerzhafter.
Nichts fällt ihm ein. Die Worte drohen, ihm zu entgleiten. Konzentriere dich, mahnt er sich selbst.
"Regen wäre gut", bringt er heraus, und bereut es sofort. Das Wort Regen löst einen beinahe unbezähmbaren Wunsch zu trinken ihn ihm aus. "Wo sind wir?" krächzt er.
"In der Wüstensonne kann man ungefähr zwanzig Stunden ohne Wasser überleben, bevor man stirbt", sagt der Andere.
Er stöhnt innerlich auf. Er ist müde, sein Kopf wird von Minute zu Minute schwerer und seine unbeweglich liegenden Beine schmerzen. Er versucht verzweifelt, zu rekonstruieren, wie er hierher gekommen ist, doch wo seine Erinnerung sein sollte, klafft nur dieses erschreckende, schwarze Loch, in das keiner seiner Spinnfädengedanken passen will.
"Hören Sie", sagt er mühsam. "Das ist doch sinnlos. Man wird nach mir suchen." Er versucht ein Lachen. Es misslingt. "Sie kommen damit nicht durch. Wahrscheinlich sind wir längst schon umstellt!"
Die lange Reihe an Wörtern, die er durch seine ausgedörrte Kehle gepresst hat, erschöpft ihn. Als der Andere keine Anstalten macht, etwas zu erwidern, sagt er so kräftig, wie er es noch vermag: "Bitte! Ich brauche ein wenig Wasser."
"Ich weiß", sagt der Andere, und in seinen Augen ist etwas Grauenvolles. Etwas ist an diesem Mann, etwas Ungewöhnliches, Erschreckendes.
Wie oft hat er sich ein solches Szenario durch den Kopf gehen lassen, versucht, alle nur denkbaren Möglichkeiten zu berücksichtigen. Doch ein solcher Blick ist nicht dabei gewesen.
Eine Unruhe erfasst von ihm Besitz und er beginnt, mit seinen Beinen gegen die Fesseln zu schaben, die lockerer zu sein scheinen, als er dachte.
"Wasser", sagt der Andere. "Es ist viel wert, nicht?"
Geld, denkt er. Es geht immer um Geld. Beinahe atmet er auf. Endlich findet sein Gehirn etwas, das es zu begreifen imstande ist. Ein Anknüpfungspunkt für die zähen Fäden in seinem Kopf..
"Wie viel?" fragt er. "Wie viel wollen Sie?"
Der Mann sieht ihn immer noch an. Dann dreht er langsam, unendlich langsam, den Kopf und blickt wieder zu dem schmalen Fenster empor.
"Fünf."
Fünftausend? Fünf Millionen?
Fünf Millionen, das ist eine Menge. Er rechnet schon. Er kann nichts dagegen tun, selbst jetzt, als der Durst wie ein tollwütiges Tier durch seinen Körper rast, rechnet er. Vielleicht kann er das Lösegeld von der Steuer absetzen. Hat es nicht so einen Fall schon einmal gegeben? Irgend eine Möglichkeit wird sich finden lassen.
Instinktiv greift er an seine Tasche, um sein Iridium hervorzuholen. Sie ist leer, natürlich.
"Geben Sie mir ein Telefon", sagt er. "Ich kann jemanden anrufen, der das Geld bringt". Er wundert sich über seine kräftige Stimme.
"Geld!" sagt der Andere und lacht kehlig auf..
Entsetzen kriecht an ihm hoch. Was will dieser Mann von ihm?
"Sie waren schön", sagt der und einen Moment lang sieht er ihn wieder an, mit diesem entsetzlichen Blick, den er nicht aushalten kann.
Beruhige ihn, sagt er sich wieder, du weißt nicht, wozu er fähig ist. Er kann keine Waffe sehen, doch das heißt nichts, nicht in dieser Dunkelheit. Entführer haben immer irgendwo Waffen.
"Was wollen Sie von mir?" fragt er schließlich und hört selbst, wie kläglich es klingt. Seine Zunge ist dick und schwer und er redet wie ein Betrunkener.
"Mein Leben", sagt der Andere.
Er schafft es nicht, ein Auflachen zu unterdrücken.
"Meine schöne Frau. Vier wunderbare Kinder."
Das war es. Natürlich. Er hatte von Menschen gesprochen! Einen winzigen Moment lang ist ihm diese Banalität fast peinlich. Schmerzhaft holt er Luft.
"Es...tut mir leid, wenn sie...Ihre Familie verloren haben", krächzt er und hört selbst, dass es nichts als eine Floskel ist.
Wann kommen sie endlich und holen ihn raus? Wofür bezahlt er die eigentlich?
Plötzlich steht der Andere auf und ist mit zwei langen Schritten bei ihm. Er packt seinen Kopf mit beiden Händen und zwingt ihn, ihm in die Augen zu sehen. Der Atem des Mannes riecht herb. Ihm wird übel und er merkt, dass noch ein Rest an Energie in ihm ist, die sich jetzt in seinen Eingeweiden sammelt, um zu bebender Angst zu werden.
"Du bist ein Schwein!" sagt der Mann. Seine Hände vibrieren, als könne er mit ihnen seinen Schädel zerquetschen. Einfach so, mit seinen bloßen, rauen Händen.
Zu seinem Erstaunen schafft es sein Mund, noch trockener zu werden. Er zittert und bringt nicht einmal einen Schreckenslaut heraus.
Da lässt der Andere ihn mit einer abrupten Bewegung frei und sinkt an der gegenüberliegenden Wand zusammen.
"Durst", sagt er irgendwann. "Weißt Du, was das ist?"
Jetzt, wo ihm die Zunge wie ein pelziges Tier im Mund klebt und jede Faser seines Körpers nach Flüssigkeit schreit, kommt ihm die Frage lächerlich vor.
"Wir hatten auch Durst", fährt der Andere fort. " Weißt Du, wie Kinder weinen, wenn sie durstig sind?"
Er weiß es nicht.
Er will jetzt jemanden anrufen, will gerne ein paar tausend Euro bezahlen, schließlich, was macht es schon, und dann raus aus diesem Alptraum. Ein paar tausend Euro, das ist doch ein Haufen Geld für so einen, soll er sich ein schönes Leben damit machen, er wird ihn nicht davon abhalten.
Nur trinken! Trinken will er und den Kopf unter kühles Wasser halten.
"Nein", spricht der Andere weiter und etwas in dessen Stimme lässt ihn aufhorchen, trotz seines schweren Kopfes, in dem das Blut wie Brei zu kreisen scheint.
"Du verstehst nicht."
Von irgendwoher dringt eine Wolke fauligen Geruchs zu ihm. Er muss beinahe würgen.
"Wo – sind wir? "
"Kläranlage", sagt der andere und er kann beinahe hören, dass er lächelt. "Irgendwann riecht man es nicht mehr."
Plötzlich keimt ein Verdacht in ihm auf, bahnt sich seinen Weg durch die Spinnfäden. Er ist zu schrecklich, um gedacht zu werden und er lässt ihn nicht mehr werden als einen Hauch. Wendet sich wieder von ihm ab, schiebt ihn in die Ecke seines Gedächtnisses zurück, die dafür vorgesehen ist. Dann sieht er, dass der andere wieder von seinem Platz aufsteht. Er kommt auf ihn zu, hockt sich vor ihn hin. Spricht weiter, und er kann spüren, dass er absichtlich langsam spricht, wie zu einem Kind. Trotzdem kann er ihm kaum folgen.
"Du musst verstehen, wie es ist", sagt er. "Nebenan – " sein ausgestreckter Arm zeigt auf die Wand. "Gibt es ein Waschbecken. Aus dem Hahn fließt sauberes, sogar etwas kühles Wasser."
Er ächzt auf, als ihn der Gedanke an den Wasserhahn im Nebenraum mit seiner ganzen Brutalität erfasst.
"Gib mir das zurück", fährt der Andere fort, "was Du mir genommen hast, dann gehe ich und hole einen Eimer voll Wasser für Dich und für mich. Wenn nicht, verdursten wir beide."
"Beide?" fragt er und weiß nicht, ob er es ausgesprochen hat.
"Fürchtest Du das Sterben?" sagt der Andere und er fängt zu zittern an, ohne dass er etwas dagegen tun kann.
"Ja, Du fürchtest das Sterben." Das Wort bleibt in dem kleinen Zimmer hängen und findet seinen Weg nicht mehr hinaus.
"Was...habe ich damit zu tun?" fragt er gequält. Die Kläranlage. Irgendetwas war mit der Kläranlage und es hat mit dieser dunklen Ecke seines Gehirns zu tun, in die er sich immer noch weigert, hineinzusehen.
Er schließt die Augen und lehnt den schmerzenden Kopf gegen die Wand. Der Schweiß läuft ihm an Rücken und Brust hinab. Er darf sich jetzt nicht hinlegen, sonst wird er nicht mehr aufstehen. Er wird das Wasser bezahlen. Er kann es bezahlen, verdammt noch mal. Er ist ein reicher Mann.
"Fünf Eimer Wasser", sagt der Andere. "Für jedes Leben eins. Für jedes Leben, das Du mir wiederbringst, hole ich einen Eimer Wasser. Und Du darfst zuerst trinken."
Er kann nicht anders, er muss lachen. Der Durst macht allmählich einem ungewohnten Gefühl Platz. Er kann es nicht benennen, spürt nur, dass er lachen muss.
"Es ist die Kläranlage am Flughafen, nicht?", sagt er, während er hilflos zusehen muss, wie sich die Tür in seinem Gehirn öffnet. "Wir sind am Flughafen. Frankfurt-Transit." Er lacht wieder, kann nichts dagegen tun. Sarah.
"Wie lange sind Sie schon hier?" fragt er den Anderen. "Wohin sollen Sie abgeschoben werden?"
Vielleicht ist er nur ein gewöhnlicher Krimineller, denkt er und weiß nicht, ob der Gedanke ihn erschrecken oder beruhigen soll.
"Sie haben uns verboten, das Regenwasser zu sammeln," sagt der Andere.
Aus einem unerfindlichen Grund beginnt er zu frieren, während der Schweiß sich in kleinen Bächen um ihn herum sammelt.
"Sie haben das Wasser abgestellt." Der Mann dreht sich um und holt aus der hinteren Dunkelheit des Raumes etwas hervor.
Er kann fühlen, dass es eine Waffe ist. Er schreit. "Das kann sie nicht wirklich wollen! Das würde sie nicht tun! Sie ist meine Tochter verdammt! Was immer sie Ihnen erzählt hat, es stimmt nicht!"
Es knallt.
Der Andere hat eine Plastikflasche vor ihm auf den Boden gerammt. Eine Flüssigkeit gluckst darin.
Er beugt sich vor und starrt die schwarze Hand an, die den Flaschenhals umklammert hält.
"Das Letzte, was ich von meiner wunderschönen Frau behalten habe", zischt der Andere. "Cholera."
Er zuckt zurück, als hätte man ihn geschlagen.
"Dieses Wasser kostet nichts."
Etwas sammelt sich in ihm. Ein Schmerz, ein unsagbarer vernichtender Schmerz.
"Was hast Du mit ihr gemacht, Du Schwein?" sagt er, es ist kaum mehr als ein Flüstern. Das sieht ihr ähnlich. Mit ihrer verdammten Sentimentalität. Zurückweisungshaftanstalt, so heißt es, es fällt ihm wieder ein. Sie hatte einmal davon gesprochen.
Aber wie war der herausgekommen?
Sarah. Natürlich. Einmal war ihr Name ihr nicht zur Last gefallen, hatte ihr geholfen. Geholfen wobei?
Der Andere schweigt. Lange liegt nichts anderes in dem hohen Raum als das Atmen des jeweils anderen.
Durch das Schweigen hindurch glaubt er, seinen Herzschlag zu hören. Er bewegt seine schwere Zunge und die Stimme, die aus seinem Mund kommt, klingt ihm selbst fremd in den Ohren. "Du weißt, dass ich Deine Familie nicht zurückholen kann."
"Ich weiß", sagt der Andere. "Aber Du musst etwas verstehen: Dasselbe habe ich auch gesagt. Ich kann das nicht, habe ich gesagt. Ich kann das Wasser nicht bezahlen. Es ist so teuer, es geht nicht."
Er hält den Atem an. Er will das nicht hören. Es klingt nach Sarah. Er weiß nicht, ob der Schmerz vom Durst kommt oder davon, dass sich die dunkle Ecke seines Gehirns in seinen restlichen Körper ergießt.
"Sie haben uns aus dem Haus gejagt. Wir müssen bezahlen, sonst dürfen wir nicht bleiben, haben sie gesagt."
Südafrika. Es muss Südafrika sein. Davon hat er gehört. Sind sie im Wassergeschäft in Südafrika? Er weiß es nicht. Müsste es wissen. Sein Gehirn weigert sich, wie gewohnt zu funktionieren.
"Was willst Du von mir?" Er hört sich kläglich an, verzweifelt, als ob er weint. Doch er weiß, dass nicht mehr genügend Flüssigkeit für Tränen in seinem Körper ist.
Wie viel ist ein Menschenleben wert, denkt er und versucht, sich an alles zu erinnern, was er darüber jemals gelesen hat. Nichts will ihm einfallen.
"Eine Million", sagt er, ohne dass er das Gefühl hat, es zu tun. "Für jeden."
Fünf Millionen. Das wird wohl genug sein, verdammt. Fünf Millionen, da kann er sich in seinem vermaledeiten Afrika wahrscheinlich zehn Frauen kaufen und ein paar Dutzend Kinder zeugen!
"Und nimm das da weg", fügt er hinzu und widmet der vor ihm auf dem Boden stehenden Flasche einen flüchtigen Wink.
"Geld", sagt der Andere nur.
Er spürt, wie plötzlich eine rote heiße Welle über ihn hinwegfegt und ihn für einen Moment Durst und Verzweiflung vergessen lässt.
"Verdammt noch mal!" schreit er und die Flasche, die er in einer heftigen Bewegung streift, fällt um. "Glaubst Du wirklich, ich bin schuld an Deinem Unglück? Weil ich zufällig Vorstand eines Großkonzerns bin? Ein Unternehmer, ein Kapitalist? Peter Eudehn, der große böse Lieblingsschurke?" Er muss husten, die Zunge gehorcht ihm nicht mehr. Er schluckt und schluckt, doch das Gefühl eines trockenen Flecks im Hals, den er nicht befeuchten kann, verschwindet nicht.
Seine Hände sind zusammengekrampft wie bei einer Maschine, deren Mechanismus versagt hat.
"Bist Du ein gläubiger Mensch?"
Er kann nicht antworten.
"Ich glaube an Buße", sagt der Andere. "Das, was ich tue, ist schlecht. Deshalb werde ich sterben. Vielleicht genügt das. Vielleicht auch nicht. Ich habe Deiner Tochter ein Versprechen gegeben und es ist das letzte Mal, dass ich einem Weißen etwas verspreche. Das letzte Mal, dass ich irgendeinem Menschen etwas verspreche."
Er verstummt einen Moment.
"Weißt Du, dass sie schwanger ist?" sagt der Andere dann langsam und etwas in ihm registriert noch, dass Mitleid in der Stimme des Mannes mitschwingt, bevor etwas in ihm zerbricht.
Alles beginnt sich zu drehen. Rote Punkte fangen vor seinen Augen an, zu tanzen.
"Du musst verstehen", flüstert die Stimme und er kann nicht mehr erkennen, aus welcher Ecke des Raumes sie kommt.
"Deine Tochter wünscht sich, dass Du verstehst."
Einen kurzen Moment lang spürt er Scham, dass er in seiner letzten Stunde nichts denken kann. Kein Bedauern, keine Liebe, die in ihm aufsteigt. Nur Schmerz und Erschöpfung.
Seine Gedanken werden langsamer, drehen sich und kreisen herum, immer quälender. Fühlt es sich so an, zu verdursten? fragt er sich. Und Cholera?
Vielleicht bricht sie bei ihm gar nicht aus. Er ist nicht unterernährt, kann sich medizinische Versorgung leisten. Bricht Cholera nicht nur bei Unterernährten aus? Er beginnt, die vor ihm liegende Wasserflasche aus fiebrigen Augen neu zu betrachten.
"Denkst Du, dass es richtig ist, dass wir leben und sie nicht?" sagt der Andere und deutet auf die Flasche zwischen ihnen.
Nein, will er sagen. Doch er sagt es nicht. Spricht nicht mehr.
Irgendwann stellt er fest, dass er auf dem Boden liegt. Er will schlafen. Er ist schrecklich müde.
Vor seinen Augen beginnt es zu flimmern. Wie in der Wüste, denkt er. Es ist wie in der Wüste.
Und dann, irgendwann, viel später, schließt er die Augen und fliegt davon. Er weiß nicht, ob man das darf, einfach so davonfliegen.
Doch er will nicht zurück in diesen verbrauchten, bedauernswerten Körper. Er spürt etwas Bitteres im Mund, das er nicht schlucken kann. Ich sterbe, denkt er. Ich bin tot. Und er fühlt keine Angst, nur Verwunderung. Dass es so einfach geht. So ohne Schmerzen. Und er will weinen, weil es so leicht ist. Voller Licht.
Doch dann, noch bevor jemand ihn fragt – und jemand wird kommen und ihn fragen – erkennt er, dass es nicht geht.
Er wird zurückkehren.
Es schmerzt, und er will 'Ja' sagen, doch er muss zurück.
Irgendwo ist seine Tochter, und sie trägt ein Kind und er weiß nicht, ob es schwarz ist oder weiß. Er muss ihr sagen, dass es egal ist. Dass er beginnt, zu verstehen.
Während er davonfliegt, den Main entlang, das langgestreckte Gebäude sieht, in dem er sein halbes Leben verbrachte, beginnt er zu verstehen. Er muss zurück und muss denen, die jetzt in das Zimmer drängen, brutal den Raum erhellen, schreien, so schrecklich laut und falsch schreien, sagen, dass sie wieder gehen können! Dass er sie nicht mehr braucht.
Sie sollen ihn dort lassen, nicht diesen reglosen Körper – der seiner ist, ein Teil von ihm weiß dies noch – auf eine Trage legen.
Nicht den anderen – Oh Gott, den anderen! – packen. Ihn anschreien. Fallenlassen. Auf eine andere Trage – zudecken – bis über das Gesicht hinweg zudecken. Er will es ihnen sagen, es ist falsch! Doch er kann es nicht – sie hören ihn nicht – und er muss ihnen folgen, muss wieder in diesen alten Körper zurück, der sich so anders anfühlt – fremd, beinahe falsch. Kurz bevor er sich zurück zwängt, dreht er sich zu dem Anderen um und ein Leuchten geht von ihm aus. Und da weiß er, dass er seine schöne Frau wieder finden wird. Doch er, er muss jetzt zurück.
Und als er es tut, reißen sie die Augen auf und er schreit sie an, aus Leibeskräften schreit er, er hat nie so geschrieen, kann sich nicht daran erinnern, jemals so geschrieen zu haben. Und sie weichen zurück, erschrocken, ein wenig erleichtert auch – er kann es an ihren Gesichtern sehen – und er will sofort aus dem Wagen mit dem ohrenbetäubenden Signalhorn aussteigen, doch sie lassen ihn nicht und er fragt nach dem anderen, weil es das Einzige ist, das ihn interessiert, das Einzige, das wichtig ist, und sie sagen ihm, er sei tot und da nickt er und schließt die Augen. Als sie etwas Betäubendes in seine Adern jagen, entringt sich seiner Kehle ein Seufzen. Irgendwann wird er weinen. Es wird die Zeit kommen, da sie ihn endlich weinen lassen.
©Angela Mohr, 2009