Der blaue rock

 

 

1

 

Vielleicht ist es die Sommerhitze. Der Straßenmusikant. Die anderen Frauen, die vor ihr in die Geschäfte gehen, vielleicht ist es ein Moment von Übermut, oder (realistischer) die SALE – Schilder an den Eingängen und Schaufenstern, die sie ins hinein locken, zu den Verheißungen und Versprechungen.

 

 

2

 

Sie schlendert vorbei an Hosen, Kleidern, Röcken, Strickwesten. Greift hinein, prüft einen Stoff zwischen zwei Fingern, hebt einen Bügel heraus, greift nach dem nächsten.

 Vor ihr hebt ein Mädchen einen Rock an, und da sieht sie, im Moment des Zurückwehens des marineblauen Chiffons, wie der Wind mit dem Rock spielen wird.

 

 

3

 

Der Wind wird ihren Rock erfassen, und sie wird sich drehen, drehen, drehen. Sie wird lachen und jauchzen und die Welt vergessen.

Sie geht zur Umkleide, der blaue Rock hängt über ihrem Arm, ein geblümter und einer mit großen grünen Punkten. Ein gestreiftes Kleid, eine weiß glitzernde Bluse.

 

 

4

 

Vor den Umkleiden steht eine Verkäuferin. Sie lächelt. „Fünf Teile?“. Sie nickt, erhält eine blaue Plakette. Sorgfältig zieht sie den Vorhang zu. Sie arbeitet sich langsam vor, vermeidet den Blick in den Spiegel. Der Blick in den Spiegel irritiert sie.

 

 

5

 

Endlich greift sie zu dem blauen Rock. Die Damen duften nach Vanille und die Herren nach Meeresküste. Sie schließt die Augen. Er wird lächeln. Wird sich zu ihr beugen, eine Frage stellen, die sie mit einem Nicken beantwortet, einem Augenzwinkern. Er wird ihr den Arm bieten, sie auf die Tanzfläche führen, nahe am Wasser, bei den Pavillons.

 

 

6

 

Sie tanzt zu der Melodie in ihrem Kopf. Fühlt die Blicke auf ihren bloßen Schultern, den Beinen, die sich bewegen in den weißen Segelschuhen. Sie kommt außer Atem, hält inne. Hat sie gesummt? Mit der Hand an ihren Lippen lauscht sie in die Nachbarkabinen, den Flur. Sie hört nichts. Kein Gekicher, kein Getuschel.

 

 

7

 

Plötzlich ist sie müde. Sie trägt die Kleider zurück zu der freundlichen Verkäuferin, reicht ihr das Plastikschild, reicht ihr die fünf Kleiderbügel.

„War nichts dabei?“ fragt die Verkäuferin freundlich.

Sie sieht zu dem blauen Rock. „Mädchen!“, will sie schreien, „natürlich wäre was dabei!

 

 

8

 

„Vielleicht beim nächsten Mal“, sagt sie. „Ich bin zu alt.“

Die Verkäuferin hebt die Augenbrauen. „Warum das denn?“

Weil ihr euch alles, alles genommen habt! Weil da draußen kein Platz mehr für mich ist!

 Sie sagt es nicht. Sie hat Angst, dass die Verkäuferin nickt.

 „Ich bin zweiundsiebzig“, sagt sie. 

 

 

9

 

Sie dreht sich um. Als sie nach draußen geht, spürt sie den Nieselregen. Der Straßenmusikant hat zu einem Walzer gewechselt. Er spielt unrhythmisch, kann den Takt nicht halten.

Sie beginnt, sich zu drehen. Ihre Wangen werden feucht.

 

©Angela Mohr, 2024